Bähler, Anna u.a. (Hrsg.): Thuner Stadtgeschichte

Titel
Thuner Stadtgeschichte. 1798 – 2018


Autor(en)
Bähler, Anna; Brodbeck, Thomas; Gerber-Visser, Gerrendina; Lüthi, Christian; Moser, Katharina; Schüpbach, Andrea; Stämpfli, Philipp
Herausgeber
Bähler, Anna; Egli, Anita; Lüthi, Christian
Erschienen
Thun 2018: Werd & Weber Verlag AG
Anzahl Seiten
316 S.
von
Lina Gafner, Institut für Medizingeschichte, Universität Bern

Zahlreiche Schweizer Städte und Gemeinden liessen in den letzten Jahrzehnten ihre Geschichte wissenschaftlich aufarbeiten. Ziel ist es dabei, eine breite Leserschaft anzusprechen: Menschen mit Bezug zum Ort, Fachpersonen, interessierte Laien wie auch Schulen. Damit erheben solche Projekte unter anderem den hohen Anspruch, den Erwartungen der lokalen Öffentlichkeit gerecht werden zu wollen, was nicht zu unterschätzende Herausforderungen in sich birgt – zumal Ortsgeschichte immer auch lokale Identitäten tangiert und auf spezifische Empfindlichkeiten und dominante Erzählungen trifft.

In Thun haben sich sieben Historikerinnen und Historiker (Anna Bähler, Thomas Brodbeck, Gerrendina Gerber-Visser, Christian Lüthi, Katharina Moser, Andrea Schüpbach und Philipp Stämpfli) dieser anspruchsvollen Aufgabe angenommen. Ihre Ergebnisse sind in ebenso viele thematische Kapitel sowie eine Synthese gegliedert. Ergänzt wird der Lauftext durch anekdotische oder erklärende Texte in Kästchen. Ein Personensowie ein Sach- und Ortsregister helfen bei der Suche, und eine Zeittafel stellt Thuner Ereignisse in Bezug zu solchen von schweiz- und weltweiter Bedeutung. Während der Untertitel des Buches einen Beigeschmack von Standortförderung hat, hebt sich der Inhalt angenehm davon ab: Die Thuner Stadtgeschichte wartet mit sorgsam kontextualisierten Fakten und in aufschlussreichen Visualisierungen vermittelten historischen Daten auf, die einen reichhaltigen Überblick bieten und zu weitergehender Forschung einladen.

Überraschenderweise folgt auf zwei Vorworte aus Politik und Verwaltung keine Einleitung der Autorinnen und Autoren. Der Unmöglichkeit, allen gehegten Erwartungen an eine Stadtgeschichte zu genügen, hätten sie an dieser Stelle begegnen, ihre Ansätze und ihr Verfahren offenlegen und ihre Arbeit damit nachvollziehbar machen können. So hätte etwa die Wahl des Untersuchungszeitraums, die Beschränkung auf das 19. Und 20. Jahrhundert, einleitend erklärt werden können. Stattdessen wird die Leserin direkt in die Revolutionszeit um 1800 geworfen, die auch das «ruhige Landstädtchen» Thun anscheinend unvermittelt getroffen hat. Das erste Kapitel zu Helvetik und Mediation gewährt einen kurzen Rückblick auf das Ancien Régime, doch beschreibt es das ausgehende 18. Jahrhundert nicht mit seinen Dynamiken, sondern eher als einen Zustand, der seiner Überwindung harrt.

Es ist verlockend, den Schwerpunkt auf das 19. und 20. Jahrhundert zu legen, denn ab diesem Zeitpunkt verändert sich das Selbstverständnis der Schweizer Landstädte, politisch und wirtschaftlich kommt Schwung in die Lokalgeschichte. Doch diese Gewichtung wartet mit zwei historiografischen Herausforderungen auf, die sich in der Thuner Stadtgeschichte spiegeln. Erstens mit der Schwierigkeit, die vielfältigen Spannungen und Umbrüche im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts zu kontextualisieren, und zweitens damit, dass sich Stadtgeschichte mit einem Fokus auf die Moderne leicht als Entwicklungsgeschichte erzählen lässt, die dazu neigt, die Stadt einseitig als Ort der Modernisierung, der Demokratisierung und des Fortschritts zu beleuchten. Dem Sog dieses Narrativs entziehen sich die Autorinnen und Autoren stellenweise durchaus erfolgreich, etwa indem sie das Armenwesen überzeugend als sich veränderndes, aber bleibendes Aufgabenfeld der Stadt beschreiben. Und die eindrückliche Auseinandersetzung mit dem Dienstbotenwesen zeigt, wie die Stadt im 19. Jahrhundert zum Ort der grossen Versprechen, aber auch der grossen Ungleichheiten wird: Gewaltiger Reichtum konzentrierte sich bei wenigen, meist von auswärts kommenden Familien, die in Industrie und Tourismus investierten. Doch das Modernisierungsnarrativ erweist sich als zäh: Sei es in der Stadtentwicklung, wo die Stadt zu nachhaltiger Abfallentsorgung, Infrastruktur und Verdichtungspolitik findet, in der Politik, wo endlich auch Frauen mitgestalten dürfen, oder in der erfolgreichen Überwindung ökonomischer Krisen. In der Synthese dieser Stadtgeschichte entwickelt sich Thun vom Untertanenort über die Industrie- zur Kulturstadt und scheint somit einen glücklichen Endpunkt erreicht zu haben.

Wird die Geschichte einer Stadt erforscht, stellen sich die Fragen: Was ist eine Stadt und wie funktioniert sie? Wo beginnt sie und wo endet sie? Städte sind Orte der Verflechtung von Personen und Dingen, sind Akteure in ökonomischen Netzwerken und, um mit Saskia Sassen zu sprechen, Schauplätze globaler Prozesse. Was heisst das für den Fall einer Kleinstadt wie Thun? Rüstungsindustrie und «nationaler Waffenplatz» nehmen im Thuner Selbstverständnis – und in der Stadtgeschichte – einen zentralen Platz ein. Dass die Schweiz und mit ihr auch Thun ab 1933 zu einem Standort der verdeckten deutschen Rüstung wurde und die Versorgung der Schweizer Armee nur einen sehr geringfügigen Anteil der Produktion ausmachte, hätte Erwähnung verdient.1 Auch die Tatsache, dass noch heute siebzig Prozent der in Thun produzierten Munition exportiert wird,2 bleibt ausgeklammert, während die Thuner Geschichte mit Blick auf den Solarzulieferer Meyer Burger durchaus auf jüngste wirtschaftsgeschichtliche Entwicklungen hinweist. Eine stärkere Sichtbarmachung der sich verändernden Verflechtung Thuns mit ihrem regionalen Umland wäre ebenfalls hilfreich für ein tiefer gehendes Verständnis der Bedeutung und des Funktionierens der Stadt.

Während dem Anspruch nach Überblick in der Thuner Stadtgeschichte durchaus Genüge geleistet wird, unterscheidet sich die analytische Tiefe der verschiedenen Beiträge. Nicht überall gelingt es gleich gut, die Geschichte der Stadt in einen breiteren Kontext zu stellen und zu zeigen, dass Geschichte Fragen stellen und nicht bloss Fakten aneinanderreihen will. Mehr Mut zur Präsenz der Autorinnen und Autoren wäre hier wünschenswert, sei dies in einleitenden Anmerkungen, in kritischen Analysen oder in einer gründlicheren Auseinandersetzung mit den zahlreichen, teilweise aber leider etwas beiläufig erscheinenden Bildern.

1 Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Die Schweiz, der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg. Schlussbericht. Zürich 2002, 220 – 223
2 Schmutz, Christoph G.: Wenn die Armee immer weniger Munition kauft. In: NZZ online, 18.8.2015, URL: https://www.nzz.ch/wirtschaft/unternehmen/wenn-die-armee-immerweniger-munition-kauft-1.18597603.

Zitierweise:
Lina Gafner: Rezension zu: Bähler, Anna et al. (Hrsg.): Thuner Stadtgeschichte 1798 – 2018. Attraktive Stadt, regionales Zentrum, nationaler Waffenplatz. Thun / Gwatt: Werd & Weber 2018. Zuerst erschienen in: Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 2, 2019, S. 53-55.

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Autor(en)
Beiträger
Zuerst veröffentlicht in

Berner Zeitschrift für Geschichte, Jg. 80 Nr. 2, 2019, S. 53-55.

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